Dokumentaristin der Arbeit

Kinobox mit drei Kulturfilmen von Lia Simonyi

Datum: 8 November 2024 - 28 Februar 2025
Zeitpunkt: 12:00
Ort:  Collegium Hungaricum Berlin
Dorotheenstraße 12, 10117 Berlin
Akrobaten der Arbeit (R.: Lia Simonyi, 1940, 10 min)

Akrobaten der Arbeit (R.: Lia Simonyi, 1940, 10 min)

Kinobox im Rahmen der Ausstellung Gesichter eines Archivs

Geöffnet: Mo-Fr 13:00-18:00
8. November 2024 - 31. Januar 2025
Eintritt frei

Lia Simonyi (1909, Budapest – 1999, Zürich)
1938/39 Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung am Collegium Hungaricum
Lia Simonyi ist die erste ungarische Filmregisseurin, eine Pionierin des ungarischen Kulturfilms. Ihre Filmkarriere beginnt 1938 in Berlin, wo sie als Stipendiatin je ein Semester an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin und an der frisch gegründeten Deutschen Filmakademie Babelsberg verbringt.
Nach ihrer Rückkehr wird sie beim Ungarischen Filmbüro in der Abteilung Kulturfilm tätig. 1940 entsteht ihr bekanntester Kurzfilm, Akrobaten der Arbeit. 1943 hält sie in Deutschland eine Vortragsreihe über den ungarischen Kulturfilm. Nach dem Krieg und der Verstaatlichung der ungarischen Filmindustrie arbeitet sie für die Ungarische Filmfabrik für Wochenschau und Dokumentarfilme, 1953 wird ihr jedoch gekündigt. 1956 beginnt sie in der Schweiz ein neues Leben. Nach fast zehn bitteren Jahren, in denen ihr Arbeitgeber Condor Films Zürich sie ausbeutet, kann sie in ihren alten Beruf zurückkehren: Sie dreht wieder Dokumentarfilme, schließlich auch für das Schweizer Fernsehen. Als Höhepunkt ihrer Karriere bezeichnet sie ihr filmisches Porträt des genialen Arztes, Naturforschers und Philosophen Theophrastus Paracelsus (1972).
Ihre Erinnerungen werden 1988 unter dem Titel Das war’s! veröffentlicht.

In der Kinobox:

The Acrobats of Work (Akrobaten der Arbeit / A munka akrobatái, OmeU, 1940, 10 min)

From Timber to Violin (Vom Balken bis zur Geige / A rönktől a hegedűig, OmeU, 1941, 20:17 min)

Cotton (Baumwolle / Gyapot, OmeU, 1950, 15:16 min)

Die erste ungarische Filmregisseurin als Dokumentaristin der Arbeit
Lia Simonyi, ehemalige Humboldt-Stipendiatin, Pionierin des ungarischen Kulturfilms, drehte in ihren dreizehn Jahren in der ungarischen Filmindustrie knapp zwanzig Kurzfilme über die Arbeit und arbeitende Menschen, die ihrer Tätigkeit in verschiedenen Bereichen, an unterschiedlichen Orten und teilweise unter extrem kräftezehrenden Umständen nachgingen.
Die drei Filme im Programm zeugen von Lia Simonyis Faszination von dem Thema und von ihrer Entschlossenheit, neben ihrem stetigen pädagogischen Auftrag auch die Würde und die Ästhetik der Arbeit zu vermitteln.
Nach ihrem Studienjahr an der frisch gegründeten Deutschen Filmakademie Babelsberg kehrte Simonyi 1939 nach Budapest zurück und fand sofort eine Stelle beim Ungarischen Filmbüro. Noch im gleichen Jahr wurde sie mit einem Kurzfilm über das Salzbergwerk in Solotwyno in der heutigen Ukraine beauftragt, nach dessen Erfolg sie als nächstes eine eigene Idee verwirklichen durfte.
Aus dieser Idee entstand der Film Akrobaten der Arbeit über die teils schwindelerregenden „Kunststücke” urbaner Arbeiterinnen und Arbeiter. Nach dem auch technisch aufwändigen Salz-Film durfte sie diesmal bei natürlichem Licht und mit Handkamera arbeiten – zusammen mit ihrem Kameramann József Horváth, der für seine Risikobereitschaft und seine spektakulären Aufnahmen bekannt war. Horváth ist im Film selbst als Protagonist zu sehen, als er bei seiner Arbeit einem Schornsteinfeger hinterherklettert – und bekommt dadurch seinen wohlverdienten Platz unter der „Akrobaten”. Der Film gilt als Meisterstück des sogenannten Kulturfilms. 
Simonyis erste Arbeit, auf deren Abspann sie – und zum ersten Mal in der ungarischen Filmgeschichte überhaupt eine Frau! – als Regisseur(in) auftauchte, führte sie in die Wälder Transkarpatiens. Der Dreiteiler (1940-41), den Simonyi als erste große Kraftprobe in ihrer Karriere beschrieb, verfolgte den Weg des Holzes und die Arbeitsschritte von der Abholzung (Der Schatz Transkarpatiens), über den Transport (Flößer an der Theiß) bis zur Verarbeitung (Das grüne Gold Transkarpatiens). Die drei Filme, die sie mit ihrem jahrelangen Kollegen, dem Kameramann Tibor Megyer, drehte, wurden später unter dem Titel Vom Balken bis zur Geige für die ausländische Verwertung zusammengefasst. Als Leni Riefenstahl 1943 den Film sah, äußerte sie sich anerkennend: Es sei unglaublich, dass dieser Film in solcher bildlichen Vollkommenheit ohne Stativ, nur aus der Hand gedreht wurde.
Auf die letzten Jahre des zweiten Weltkriegs folgte eine jahrelange Produktionspause sowie die Verstaatlichung der ungarischen Filmindustrie. Als der Staatssekretär des Agrarministeriums Simonyis Idee, eine monatliche Kurzfilmreihe über landwirtschaftliche Themen zu starten, dankend aufnahm, schrieb sie begeistert: „Endlich bin ich in der schönsten Etappe meiner Karriere angekommen: Ich durfte landwirtschaftliche Filme machen, ganz in meinem Belieben.” Der Film Baumwolle entstand 1950, in der nach dem Krieg gegründeten Ungarischen Filmfabrik für Wochenschau und Dokumentarfilme und dokumentierte das Unterfangen der sozialistischen Planwirtschaft, in dem vom kontinentalen Klima geprägten Ungarn in industriellen Mengen Baumwolle zu produzieren – ein Projekt, das sich einige Jahre nach Fertigstellung des Films wegen völliger Erfolglosigkeit eingestellt werden musste.

HINTERGRUND

Deutsch-ungarische Filmbeziehungen bis Ende des zweiten Weltkrieges

Das Genre „Kulturfilm”, zu dem auch die meisten Filme Simonyis gehören, gewann an Bedeutung, als die Ufa 1918 eine Kulturfilm-Abteilung einrichtete. Im zweiten Weltkrieg wurden Kulturfilme als wichtiges Instrument der Nazi-Propaganda angesehen, deshalb ließ Joseph Goebbels eine Deutsche Kulturfilm-Zentrale einrichten, um damit die direkte Kontrolle über die Produktion von Kulturfilmen zu ermöglichen.

Auch das Horthy-Regime erkannte im Ungarn der Zwischenkriegszeit die Bedeutung des Films als Massenmedium. Mit den zunehmend engen politischen Beziehungen zum späteren Kriegsverbündeten Deutschland wurden auch im Film- und Kinobereich starke Verbindungen zwischen beiden Ländern geknüpft. Ab 1930 betrieb die UFA in Budapest drei Kinos, die sie bis Kriegsende mit Spielfilmen, Kulturfilmen und Wochenschauen versorgte.

Nach deutschem Muster eröffnete das 1926 gegründete Ungarische Filmbüro 1938 zwei eigene Kinos und wurde Teil eines internationalen Tauschnetzwerkes, in dessen Rahmen sich die Partner gegenseitig mit Wochenschau-Beiträgen bzw. Filmen unterschiedlicher Länge und Gattungen versorgten. Gleichzeitig wurde die eigene Kulturfilmproduktion angekurbelt: Man produzierte jährlich 15-25 Kulturfilme, um den Programmbedarf der beiden Wochenschau-Kinos zu decken.

Das Ungarische Filmbüro brauchte junge, talentierte Filmemacher. So wurde Lia Simonyi nach ihrem Berlin-Aufenthalt mit offenen Armen empfangen und von Nándor Jenes, dem damaligen Leiter der Kulturfilmabteilung, rasch mit dem ersten Film beauftragt. Doch Simonyi war nicht nur eine talentierte Mitarbeiterin, sie kannte sich – dank ihres Berlin-Studiums – auch mit der deutschen Filmindustrie aus. Noch vor ihrer Einstellung beim Ungarischen Filmbüro begann sie, für die Zeitschrift Ungarischer Film über unterschiedliche Aspekte der deutschen Industrie zu berichten: Sie verfasste eine Reportage über das Filmstudio in Babelsberg und wertete die letzten Jahre der deutschen Filmwirtschaft aus.

Als während des Krieges das Filmmaterial des Ungarischen Filmbüros ausging, erhielt Simonyi den Auftrag, von den deutschen Kollegen Rohmaterial für weitere Filmproduktionen zu besorgen. Deshalb reiste sie im April 1943 nach Deutschland, wo sie in Berlin, Stuttgart, München und schließlich in Wien eine Vortragsreihe über den ungarischen Kulturfilm hielt. Als sie ihre Rückreise nach Ungarn antrat, war das angeforderte Filmmaterial schon auf dem Weg nach Budapest. So konnte die Filmproduktion im Ungarischen Filmbüro vorläufig aufrecht erhalten werden.

Bei dieser Deutschlandreise lernte Simonyi auch Leni Riefenstahl kennen, die sie für den Film Olympia bewunderte und der sie bei einem privaten Treffen in deren Villa ihren Film Vom Balken bis zur Geige vorführen durfte.

In den zerbombten deutschen Städten sah sie das Ausmaß der Zerstörung mit ihren eigenen Augen. Sie schreibt in ihren Erinnerungen: „Mein Aufenthalt wurde von der Neurose nach Stalingrad geprägt. Plötzlich sah ich den Krieg. Am Anfang war ich mit dem Filmemachen so beschäftigt, dass ich ihn kaum zur Kenntnis nahm, aber jetzt ging er unter meine Haut mit all den Grausamkeiten, mit seiner Sinnlosigkeit und seiner Zerstörung.”

Kuratorin: Virág Bottlik