BBS 3 – Wahrheit durch Fiktion

Datum: 22 Juni - 23 Juni
Ort:  Collegium Hungaricum Berlin + online
Dorotheenstr. 12, 10117 Berlin

Staatssozialistisch gesicherter Freiraum für Filmkunst

Das Studio Béla Balázs – ein kulturpolitisches Experiment der Volksrepublik Ungarn mit unerwarteten Nebenwirkungen

Fagyöngyök (1978) Judit Ember © Studio Balázs Béla, Ungarisches Nationales Filminstitut

Fagyöngyök (1978) Judit Ember © Studio Balázs Béla, Ungarisches Nationales Filminstitut

Das Collegium Hungaricum Berlin (CHB) widmet dem Filmstudio Béla Balázs, einer im Staatsozialismus ungewohnte künstlerische Freiräume schaffenden Filmwerkstatt, eine vierteilige Filmreihe. Folge drei findet am 22. Juni ab 19:00 Uhr sowohl vor Ort im CHB als auch online statt. Zu sehen ist der für die Budapester Schule exemplarische, jedoch ganz eigene Dokumentarspielfilm Misteln (Fagyöngyök, 1978) von Judit Ember. Filmhistorikerin Borjana Gaković führt in das Programm ein.

Das 1959 als kulturpolitisches Experiment gegründete BBS wurde ab 1961 jährlich mit dem Budget eines abendfüllenden Spielfilms subventioniert, was es den dort wirkenden Filmemacher:innen und Künstler:innen ermöglichte, frei an ihren Projekten zu arbeiten.

1969 erschien im Filmmagazin Filmkultúra ein Manifest, das eine soziologische Filmbewegung forderte, die sich mit den Methoden der Soziologie und der Anthropologie brennenden gesellschaftlichen Problemen widmen sollte. Damit rückte die Lebenswelt der Arbeiterklasse verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit der Filmemacher:innen.

Die Vielfalt der dokumentarischen Herangehensweisen innerhalb des Studios und die intensive Auseinandersetzung mit den Grenzen zwischen Dokumentarismus und Fiktion brachten Anfang der 1970-er Jahre eine eigene Strömung hervor, die unter dem Namen Budapester Schule bekannt wurde. Es kam zu einer ganzen Reihe filmischer Grenzüberschreitungen, in denen Methoden und Ansätze des fiktionalen und dokumentarischen Filmemachens gleichzeitig eingesetzt wurden – Drehbücher entstanden anhand von Gesprächen mit den Protagonist:innen, Menschen spielten ihr eigenes Leben nach. Das vielleicht bekannteste Beispiel dieser Bewegung ist Béla Tarrs lange Fiction-Doku Family Nest aus dem Jahr 1977, in der die Enge des gemeinsamen Wohnraums immer wieder zu heftigen Konflikten zwischen den Familienmitgliedern führt.

BBS 3 ǀ Wahrheit durch Fiktion
Misteln (Fagyöngyök, R: Judit Ember, 1978, 86 min) OmeUT
22.06.2021, 19:00

Als sie mit den Dreharbeiten von Misteln begann, hatte Judit Ember schon über zehn Filme hinter sich, u.a. ihren mit Gyula Gazdag gemeinsam entwickelten situativen Dokumentarfilm Der Beschluss (1972), den das American Film Institute auf die Liste der 100 besten Dokumentarfilme aller Zeiten setzte, der aber gleichzeitig in Ungarn bis in die achtziger Jahre hinein verboten war. Überhaupt hat Judit Ember den ironischen Meistertitel inne, die meisten im sozialistischen Ungarn verbotenen Filme produziert zu haben. Sie galt als „die Unverbesserliche“, obwohl sie keine kämpferischen Filme drehte: Ihre Protagonist:innen erzählten oder zeigten einfach, was ihnen widerfahren ist oder täglich widerfährt, ohne Empörung und ohne Vorwürfe zu erheben.

Auch der Film Lehrgeschichte (1976) wurde seinerzeit wegen seines empfindlichen Themas verboten. Es geht um ein Mädchen, das versucht, sich das Leben zu nehmen. Das gleiche Mädchen sehen wir einige Jahre später in Misteln, Embers einzigem Dokumentarspielfilm wieder, als junge Mutter zweier – bald dreier – Kinder. Ember zeigt mit selbstverständlicher Sympathie und sanftem Humor den Facettenreichtum des Lebens der Familie, die jeden Tag durcharbeiten, um einen winzigen Schritt voranzukommen. Die Regisseurin porträtiert drei Generationen von aufeinander angewiesenen Frauen und kommt der Familie so nah, dass – zum ersten Mal in der Geschichte des Dokumentarfilms – die Kamera im OP-Saal dabei sein darf, um die Entbindung durch Kaiserschnitt aufzuzeichnen.

Das Screening findet am 22. Juni ab 19:00 Uhr sowohl vor Ort im CHB als auch online statt.

Die Teilnahme an beiden Veranstaltungen ist kostenlos.

Die Anmeldung für das Online-Screening ist ab sofort möglich unter
buero@hungaricum.de.

Zum Screening im CHB: Den geltenden Regelungen entsprechend gilt Maskenpflicht (FFP2). Der Eintritt ist mit Vorlage eines aktuellen negativen Corona-Tests oder mit nachgewiesenem Immunschutz möglich. Die Besucherzahl ist begrenzt, die Registrierung zum Zweck der Kontaktverfolgung findet vor Ort statt.

Zum BBS 4, dem letzten, Miklós Erdély gewidmeten Teil der Reihe, ist seine ehemalige Schülerin, die Berlinale-Preisträgerin Ildikó Enyedi eingeladen. Miklós Erdély, ungarischer Architekt, Künstler, Schriftsteller, Kunsttheoretiker und Filmemacher, gilt als eine Schlüsselfigur der Budapester Neo-Avantgarde der 1960er bis 1980er Jahre.

Die Filmreihe zum Studio Béla Balázs zeigt jüngst digitalisierte Filme aus dem Bestand des Filmarchivs des Ungarischen Filminstituts und kommt mit dessen Unterstützung zustande.

Kuratiert von Virág Bottlik