
fortepan.hu, Foto: Ferenc Barbjerik
Der Sommer ist da und egal, ob auf Reisen oder auf dem Balkon - mit einem guten Buch macht der Sommer noch mehr Freude! Hier sind sechs aktuelle Buchtipps für die Urlaubssaison ...

Ágnes Nemes Nagy: Mein Hirn: ein See.
Ágnes Nemes Nagy: Mein Hirn: ein See. Ausgewählte Gedichte. Herausgegeben und aus dem Ungarischen übersetzt von Christian Filips und Orsolya Kalász. Roughbook056
Im Januar 2022 wäre die ungarische Dichterin Ágnes Nemes Nagy 100 Jahre alt geworden. Nemes Nagy war nach Ende des Zweiten Weltkriegs Mitbegründerin einer Literaturzeitschrift, bevor sie nach der kommunistischen Machtübernahme im Jahr 1949 Publikationsverbot erhielt. Danach lebte sie zeitweise in Rom und Paris, arbeitete als Übersetzerin, schrieb auch Essays und Gedichte, die ihr bis heute den Ruf sichern, eine der wichtigsten ungarischen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts gewesen zu sein.
Nemes Nagy starb 1991 in Budapest. Verleger Urs Engeler hat anlässlich des 100. Geburtstages von Nemes Nagy in seinem „Roughbooks“-Label eine zweisprachige Ausgabe mit einer Auswahl von Gedichten herausgegeben. Christian Filips, selbst Lyriker und Übersetzer der Gedichte, schreibt in seinem Nachwort: „Diese Dichtung besteht darauf, dass eine wirklich materialistische Poetik an den Naturwissenschaften ebenso geschult sein muss wie an einer Phänomenologie des Schauens.“

Andrea Tompa: Omertà.
Andrea Tompa: Omertà. Roman. Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Berlin: Suhrkamp Verlag, 8.3.2022. ISBN 978-3-518-43061-3
In der 1971 geborenen Schriftstellerin Andrea Tompa sammelt sich, überspitzt gesagt, das Gemisch aus versprengten Minderheiten in Osteuropa: Tompa lebt in Budapest, ist aber eine ungarische Rumänin, deren Familie jüdische Wurzeln hat. Und ihr knapp 1000 Seiten umfassender, geradezu ungeheuerlich reicher und kluger Roman ist ein Spiegelbild der bewegten Geschichte, die jenen bis heute geradezu mythisch (und hin und wieder auch kitschig) angeschauten Landstrich namens Siebenbürgen umgibt.
Tompas Roman ist zwischen den Jahren 1948 und 1964 angesiedelt und erzählt die Lebensläufe von vier Menschen im stalinistischen Rumänien, einer Epoche der politischen Willkür, die den Nährboden bereitete für das spätere Ceausescu-Regime.

Ádám Bodor: Die Vögel von Verhovina.
Ádám Bodor: Die Vögel von Verhovina. Roman. Aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Zürich: Secession Verlag für Literatur, 8.3.2022. ISBN 978-3-907336-19-9
Ádám Bodors Welten sind an den Rändern der Zivilisation verortet, im Dämmerlicht ihres Niedergangs. Bodor, ein Meister der Verquickung von Realem und Imaginären, führt uns in diesen exakt komponierten Variationen über letzte Tage an einen nicht näher bestimmten ehemaligen Kurort irgendwo in Transsilvanien: zeitlich verortet zwischen tiefer Vergangenheit und Gegenwart, eingebettet in eine wuchtige, magisch aufgeladene Natur.
Adam, der Pflegesohn von Brigadier Anatol Korkodus, wartet am verfallenen Bahnhof auf einen Jungen aus einer Besserungsanstalt. Kurz darauf wird Korkodus aus unerfindlichen Gründen verhaftet. Was dahinter steckt, verbirgt sich im Unfassbaren, Geheimnisvollen. Es berührt aber zugleich wirkungsmächtig alles Geschehen: Die Vögel – unbestechlich im Lesen drohender Signale – sind bereits fort. Die äußerst unterschiedlichen Bewohner der Ortschaft aber halten mit rauen Eigensinn dem Schicksal die Kraft ihrer Würde entgegen. Plötzlich auftauchende Personen, deren Präsenz nichts Gutes verheißt, verschwinden wieder, während die schwefelhaltigen Quellen von Verhovina weiterhin sprudeln, bis sie schließlich ihre Substanz verändern.
Ein grotesk-komisches Sinnbild über das Wesen totalitärer Gesellschaften in all ihrer Irrationalität, Absurdität und Unerbittlichkeit – das den Leser beides, lachen und schaudern lässt.

László Krasznahorkai: Herscht 07769.
László Krasznahorkai: Herscht 07769. Florian Herschts Bach-Roman. Aus dem Ungarischen von Heike Flemming. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2021. ISBN 978-3-10-397415-7
Kana wäre eine vergessene Stadt irgendwo in Thüringen, hätte ihre abgelegene Trostlosigkeit nicht Neonazis angelockt. Die Einwohner betrachten sie mit Angst und Argwohn. Allein Florian Herscht meint, er habe Freunde auf beiden Seiten: ein hilfsbereiter Muskelprotz, der sich vor Tattoos fürchtet und glaubt, das Universum stürze demnächst ins Nichts. Um alle vor der vermeintlichen Katastrophe zu warnen, schreibt er Briefe an Frau Merkel, die ohne Antwort bleiben. Doch seine Unschuld macht ihn hellsichtig, und nur die Musik Bachs kann ihn trösten. Plötzlich tauchen am Waldrand Wölfe auf, die Apokalypse rückt tatsächlich näher…
Literarisch mit großem Sog überrascht László Krasznahorkai mit einem Roman voll beängstigender deutscher Gegenwart, mit melancholischem Humor und abgründigem Sarkasmus.
»Lange ist mir ein Protagonist nicht mehr so ans Herz gewachsen wie Florian Herscht. Gemeinerweise kann man in diesem Buch nie aufhören zu lesen. Ich sage es nicht mal neidisch, sondern als Beschenkter: László Krasznahorkai hat den heutigen deutschen Roman geschrieben.« Ingo Schulze

Ferenc Barnás: Bis ans Ende unserer Leben.
Ferenc Barnás: Bis ans Ende unserer Leben. Aus dem Ungarischen von Eva Zador. Frankfurt am Main: Schöffling & Co., 1.3.2022. ISBN 978-3-89561-293-0
Dem Schriftsteller Sebestyén Paulich, von seinen neun Geschwistern Sebi genannt, macht das Zerwürfnis, das sein gerade erschienenes Buch in der Großfamilie ausgelöst hat, zu schaffen. Darin hat er den Vater als Diktator dargestellt und der Mutter, die bald darauf stirbt, Kummer bereitet. Erst bei ihrer Beerdigung kommt Sebi auf die Idee, dass sie an etwas anderem als an Krebs gestorben sein könnte. Je mehr er nachforscht, desto mehr düstere Geheimnisse kommen ans Licht. Dass man ihn nicht an das Totenbett seiner Mutter gerufen hat, hat jedoch auch mit Sebis viel jüngerer Freundin Lil zu tun. Einige der katholischen Paulichs lehnen sie ab, dabei führen sie selber keineswegs vorbildliche Ehen. Während Lil für einen Politiker zu arbeiten beginnt, der sich für die gefährdete Demokratie Ungarns engagiert, bleibt Sebi in die Immobilien- und Glücksspielaffären seiner Geschwister verstrickt. Als auch der Vater, dessen Lebensweg nach Rumänien und Russland zurückreicht, im hohen Alter stirbt, sorgt sein Erbe für eine Überraschung.
Bis ans Ende unserer Leben ist ein temporeicher und turbulenter Roman über den Alltag einer so gar nicht alltäglichen Familie im kulturell und politisch tief gespaltenen Ungarn von heute.

Miklós Mészöly: Spurensicherung.
Miklós Mészöly: Spurensicherung. Aus dem Ungarischen von Wilhelm Droste und Pál Kelemen. Ottensheim: Ed. Thanhäuser, 11.11.2021.
Der Schriftsteller Miklós Mészöly war der erste Ungar, der 1974 ein Stipendium des DAAD-Künstlerprogramms zuerkannt bekam und mit seinem Aufenthalt im Literarischen Colloquium eine Tradition großer ungarischer Autoren wie Péter Nádas, Péter Esterházy oder auch dem derzeit gefeierten Lászlo Krasznahorkai begründete, die am Wannsee arbeiteten und literarische Spuren hinterließen. Mészöly starb im Jahr 2001.
Der Literaturwissenschaftler Pál Kelemen arbeitet in seinem Nachwort zu diesem anlässlich des 20. Todestages erschienenen Bandes heraus, dass Mészöly in eine Reihe mit den großen ungarischen Autoren des 20. Jahrhunderts gehöre, da er die ungarische Literatursprache im Grunde noch einmal neu erfunden habe, stets im Austausch mit dem Gedankengut der Moderne und auf dem Fundament eines unverbrüchlichen Humanismus. Obwohl es sich also im besten Sinne um Weltliteratur handelt, wird sein Werk heute selbst in Ungarn nur von einem kleinen Kreis von Spezialisten gelesen.
„Spurensicherung“ ist ein vierteiliger Zyklus, entstanden zwischen 1969 und 1988. Christian Thanhäuser hat Mészölys Texte auf der Basis von Fotografien mit Birnholzschnitten ergänzt; zudem liegt dem Buch ein Heft mit 24 Zeichnungen bei, die Thanhäuser von den Landschaften Mészölys angefertigt hat. Es ist ein in jeder Hinsicht schönes Buch aus einer Landschaft, über die Mészöly zu Beginn schreibt: „Kein einziges Detail prahlt. Sie will nicht betören, sie will gar nichts, sie ist einfach nur da.“ Das gilt auch für diese Prosa.